Eine menschliche Person wird aus
acht verschiedenen Perspektiven beschrieben. Sie umfasst acht Dimensionen.
Das Zentrum der Person ist das »Herz« in seiner Ausprägung als HĒT und ĒB.
Das »Herz« übt die Verbindungsfunktion aus zwischen dem »Körperselbst« und dem »Sozialselbst« des Menschen,
»seine Leistung besteht gerade in der Integration dieser beiden Sphären zum Ganzen einer Person.«
Diese Auffassung der Person ist komplexer als die uns bekannte abendländische Rede
über den Körper (sōma), die Seele (psykhē) und den Geist (nūs) des Menschen.
Mit der hier präsentierten Auffassung bzw. Darstellung gelingt gegebenenfalls ein umfassenderes und
tieferes Verständnis gerade der religiösen Dimension(en) des Menschlichen.
Zitatquelle: Jan Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten.
Der HĒT bezeichnet »metonymisch geistige Phänomene wie Bewusstsein und Erinnerung, die dem Menschen nicht biologisch vererbt werden, sondern sich in ihm im Lauf seines Erdendaseins entwickeln. Das HĒT-Herz verbindet sich mit Vorstellungen der Individualität, des Bewusstseins und der personalen, verantwortlichen Identität, des ›moralischen Selbst‹.« Der HĒT ist jene Instanz, die von Gott gerichtet wird.
Das ĒB-Herz bezeichnet »metonymisch (pars pro toto) das emotionale und kognitive
Innenleben des Menschen, sein ›innerstes Wesen‹.«
Auf diese Weise wird der ĒB mit dem Unbewussten des Menschen in Verbindung gebracht.
Der BAI und die HĒ (Leib) bilden eine Einheit, die sich im Tode auflöst.
BAI und HĒ wirken zusammen »und sind aufeinander angewiesen, einander zugeordnet
und ohne einander nicht zu denken. Der Leib braucht seinen BAI
und der BAI braucht seinen Leib. Die beiden bilden ein festes Paar.«
Nach dem Tod gelangt der BAI zu seinem eigentlichen freizügigen Wesen.
»Die konventionelle Übersetzung des ägyptischen Ausdrucks BAI mit ›Seele‹
(soul, âme) ist nicht aus der Luft gegriffen. Sie stützt sich auf die Vogelgestalt,
mit der die Schrift dieses Wort wiedergibt (ein Reiher mit Brustfeder) und mit der die Bildkunst
diesen Personaspekt darstellt (ein Falke mit Menschenkopf). Sie stützt sich ferner auf die Vorstellung
der Freizügigkeit, die sich mit dem BAI verbindet.
In Gestalt des BAI gelangt der Verstorbene durch die Todeswelt hindurch
und aus dieser heraus in die Halle des Totengerichts.« Das dort von Gott gesprochene Urteil bedeutet
entweder die Vernichtung des BAI oder seine Ausstattung mit einem verklärten (auferstandenen) Leib, mit dem er
in das ewige Leben eingeht.
Die HĒ existiert in Harmonie mit dem BAI, um im Diesseits ihre spezielle Existenzform zu wahren. Nach dem Tod löst sie sich auf und verschwindet.
Die ḪĒIBI steht für das Wirken einer Person im Diesseits und für den Tod, den eine Person erleidet. Sie repräsentiert den Einfluss eines Menschen auf das Diesseits. Im Diesseits ist sie an die HĒ und den BAI gebunden, sie folgt dem BAI aber nicht in den Himmel.
Der KŌ gehört nicht zur Leib-Sphäre des Menschen und er agiert nicht freizügig wie der BAI.
Mit dem KŌ verbinden sich die sozialen Vorstellungen von Status, Würde und Ehre.
»Der BAI erscheint als die Instanz der freien Bewegung zwischen Diesseits und Jenseits,
der KŌ dagegen als die Instanz der Rechtfertigung, die den durch den Tod vernichteten Status des Menschen
als sozialer Person wiederherstellt. Der BAI, mit anderen Worten, gehört zur Leib-Sphäre des Toten
und gibt ihm seine Beweglichkeit und Verkörperungsfähigkeit zurück,
der KŌ dagegen gehört zu seiner Sozial-Sphäre und gibt ihm Status, Ehre und Würde zurück.«
Der BAI ist eine »Freiseele«, die der Leib-Sphäre verbunden bleibt und dem Körper viel
näher steht als der KŌ.
»Der KŌ dagegen bildet kein Paar mit dem Körper, sondern mit dem ›Selbst‹ des Menschen.
Er ist Seele, Schutzgeist und Doppelgänger in einem. Man sagt, dass der Tote ›zu seinem KŌ geht‹.
Auch hier ist also von Vereinigung die Rede, genau wie beim BAI, der sich auf dem Leichnam niederlässt.
Aber bei der Vereinigung des Toten mit seinem KŌ vereinigen sich nicht Leib und Seele,
sondern der Tote selbst mit seinem alter ego.«
Der KŌ wird zusammen mit dem Individuum erschaffen und begleitet es wie ein Schutzgeist oder Doppelgänger.
So ereignet sich der KŌ als Geist, Bewusstsein oder planender Wille.
»Wie das Herz gehört auch der KŌ zum moralischen und damit zum sozialen Aspekt der Person.«
Der KŌ bezeichnet »nicht die physische Lebenskraft, sondern die moralische Personalität,
den ›normativen‹ Doppelgänger, fast eine Art Über-Ich, mit dem sich die sozialen Kategorien
von Ehre, Würde und Status verbinden, genau wie mit dem Herzen die Kategorien der Tugend
und Gerechtigkeit.«
Der RAN bezeichnet den (geheimen) Namen einer Person. Solange der RAN einer Person gesprochen oder geschrieben wird, lebt die Person fort. Das Lebensbild, das der hier präsentierten Vorstellung der menschlichen Person zugrunde liegt, »lässt sich am besten von zwei Sprichwörtern her erschließen. Das eine lautet: ›Der eine lebt, wenn der andere ihn geleitet‹, und bezieht sich vor allem auf das Leben vor dem Tode. Das andere lautet: ›Einer lebt, wenn sein Name genannt wird‹, und bezieht sich vor allem auf das Leben nach dem Tode. Beide aber beziehen sich auf einen Begriff des Lebens, der auf dem Prinzip der sozialen ›Konnektivität‹ basiert. Einer allein ist gar nicht lebensfähig bzw. im vollen Sinne lebendig. Da muss ein anderer dabei sein, der ihn geleitend an die Hand nimmt. Dafür ist er aber auch keineswegs tot, solange es noch Menschen gibt, die seinen Namen nennen, solange das Band der Konnektivität nicht zerrissen ist. Der Mensch lebt daher in zwei Sphären, die wir als ›Leibsphäre‹ und ›Sozialsphäre‹ unterscheiden können. In beiden Sphären wirkt das Prinzip der Konnektivität beseelend und belebend, und das Prinzip der Diskonnektivität entsprechend lebensbedrohend und todbringend.«
»Das unübersetzbare Wort IḪ bezieht sich auf eine heilbringende Wirksamkeit über
die Todesschwelle hinweg, vom Diesseits ins Jenseits und umgekehrt.
Vorbedingung dieser Heilswirksamkeit ist die Herzensbindung« des Menschen, die Annäherung
des Herzens. Das Herz des liebenden und geliebten Menschen »hat die Kraft, über die Todesgrenze hinweg
diese Annäherung zu schaffen.«
Der Begriff IḪ bezeichnet »kein Element, etwas, was man ›hat‹, sondern einen Status,
etwas, was man ›ist‹.«
Der IḪ ist die Existenzform des Menschen im Jenseits.
Als IḪ harrt der Mensch dem Gerichtsurteil Gottes und hofft auf sein Eingehen
in das ewige Leben. Bis zu seinem Urteil schwebt der IḪ sozusagen zwischen Jenseits und
Diesseits.